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2 Schwingungen

Eingeschränkte Vorhersagbarkeit


Über die Grenzen von Vorhersagen sagte Henri Poincaré (1854 – 1912): … dass kleine Unterschiede in den Anfangsbedingungen große Unterschiede in den späteren Erscheinungen bedingen (­können); ein kleiner Irrtum in den Ersteren kann einen außerordentlich großen in den Letzteren nach sich ziehen. Die Vorhersage wird unmöglich.

Kausalität und Chaos

Marquis Pierre de Laplace
stock.adobe.com, Dublin (Georgios Kollidas)

Der momentane ­Zustand des Systems „Natur“ ist offensichtlich eine Folge dessen, was er im vorherigen ­Moment war, und wenn wir uns eine Intelligenz vor­stellen, die zu einem gegebenen Zeitpunkt alle Beziehungen zwischen den Teilen des Universums verarbeiten kann, so könnte sie Orte, ­Bewegungen und allgemeine Beziehungen ­zwischen all diesen Teilen für alle Zeitpunkte in Vergangenheit und Zukunft vorhersagen.

So beschrieb 1776 der französische Mathema­tiker Pierre de Laplace (1749 – 1827) den Grundgedanken eines deterministischen Weltbildes, in dem natürliche und technische Vorgänge nach unveränderlichen Gesetzmäßigkeiten wie bei einem Uhrwerk ablaufen.

Das deterministische Weltbild
Marzell, Alfred, Schwäbisch Gmünd

Das von Laplace erdachte Wesen wäre dem­nach fähig, alle zukünftigen Ereignisse vorher­zusagen und damit den Fortgang des Welt­geschehens zu kennen. Im Ausgangszustand werden Anfangsbedingungen festgelegt, bei einem Ballwurf z. B. Geschwindigkeit und Richtung. Nach den Wurfgesetzen kommt der Ball an einer bestimmten Stelle an und man erwartet, dass bei Wiederholung unter gleichen Bedingungen die gleiche Stelle getroffen wird. Wenn man etwas zu kurz geworfen hat, wird man die Abwurfgeschwindigkeit etwas steigern.

Man erwartet, dass kleine Änderungen der Anfangsbedingungen nur kleine Auswirkungen auf die weitere Entwicklung haben. Man spricht vom Prinzip der starken Kausalität.

Eine Stahlkugel wird von einem Magnet an­gezogen, die Kraft nimmt etwa mit dem ­Quadrat der Entfernung ab. Genau in der Mitte ­zwischen zwei gleichen Magneten müsste die Stahlkugel ruhen. Es gelingt nicht, diesen Zustand zu erreichen. Eine Kugel, die über drei in Form eines gleichseitigen Dreiecks angeordneten gleichartigen Magnetpolen pendelt, kommt immer bei einem der Magnete zur Ruhe.

Wo bleibt die Stahlkugel am Ende stehen?
Marzell, Alfred, Schwäbisch Gmünd

Es ist nicht vorhersagbar, bei ­welchem das der Fall ist. In der Mitte zwischen zwei Magnetpolen führen kleinste Unterschiede zu einer Entscheidung für die eine oder andere Richtung. Man spricht vom Prinzip der schwachen Kausalität.

Auch Vorgänge mit schwacher Kausalität unterliegen bekannten physikalischen Gesetzen. Dennoch ist eine Vorhersage nicht möglich, wenn im Verlauf eines Vorganges häufig Entscheidungssituationen mit sehr unterschied­lichen Ergebnissen auftreten, wobei die Entscheidung sehr empfindlich von den Anfangsbedingungen und den Einflüssen während des Vorgangs abhängt. Solche Vorgänge nennt man chaotische Vorgänge. Da im Prinzip ­Gesetzmäßigkeiten gelten, spricht man vom deterministischen Chaos.

Starke Kausalität: Ähnliche Ursachen haben ähnliche Wirkungen.

Schwache Kausalität: Gleiche Ursachen haben gleiche Wirkungen, aber kleinste Abweichungen führen zu völlig anderen Folgen.

Beim deterministischen Chaos sind lang­fristige Vorhersagen nicht möglich.

Der Weg ins Chaos

Im deterministischen Weltbild ergibt sich ein neuer Zustand, z. B. gekennzeichnet durch die Größe zn+1​ , nach einer bestimmten Regel, z. B. durch Multi­plikation mit einem Faktor k aus einem alten ­Zustand mit der Größe ​zn . Die Gleichung zn+1=k·znbeschreibt einen Wachstums­vorgang, wenn k>1 gewählt wird. Es sei z.B. k=2 und z0=3. Dann folgt:

z0=3
z1=2·z0=2·3=6
z2=2·z1=2·2·z0=22·3=12
z3=2·z2=2·2·z1=2·2·2·z0=23·3=24

...

zn=2·zn-1=...=2n·3

Bei diesem exponentiellen Wachstum werden die Werte beliebig groß. Häufig ist Wachstum nach oben begrenzt, z. B. durch begrenzte Verfügbarkeit von Rohstoffen. Um große Zahlen zu vermeiden, ist es jetzt sinnvoll, den maximal möglichen Wert mit 1 festzulegen und mit ​xn​ einen Bruchteil zu bezeichnen. 1-xn bedeutet in diesem Fall den Abstand des momentanen Wertes von der oberen Grenze. Die Gleichung

xn+1=r·xn·1-xn

erfasst dann einerseits die Abhängigkeit vom momentanen Wert und zugleich die Begrenzung. Man spricht vom logistischen Wachstum Der neue Wert hängt jetzt nicht mehr linear vom alten ab. Je nach Wahl von r zeigt sich sehr unterschiedliches Verhalten.

r=2,5: xn konvergiert gegen 0,6
Marzell, Alfred, Schwäbisch Gmünd
r=3,2: xn springt zwischen zwei Werten
Marzell, Alfred, Schwäbisch Gmünd
r=3,5: xn springt zwischen vier Werten
Marzell, Alfred, Schwäbisch Gmünd
r=3,7: Keine Regelmäßigkeit erkennbar, die Folge verhält sich chaotisch
Marzell, Alfred, Schwäbisch Gmünd

Logistisches Wachstum und Chaos

Nichtlineare Gesetzmäßigkeiten können zu chaotischem Verhalten führen.

Schwingungen und Chaos

Drehpendel
Marzell, Alfred, Schwäbisch Gmünd

Die Abbildung zeigt ein drehbar ge­lagertes Rad, das mit einer an der Achse befes­tigten Spiralfeder verbunden ist. Das Rad kann dadurch Drehschwingungen ausführen. Lenkt man das Rad etwas aus, so schwingt es harmonisch um eine Ruhelage, d. h., es gilt das lineare Kraftgesetz und die potenzielle Energie kann durch eine Parabel beschrieben werden.

Die Parabel der potenziellen Energie
Marzell, Alfred, Schwäbisch Gmünd

Wegen der Dreh­bewegung sind Auslenkungswinkel φ und Winkelgeschwindigkeit ω=dφdtgeeignete Größen zur Beschreibung. In folgender Grafik sieht man die t-φ- und t-ω-Graphen ohne und mit Dämpfung.

Ohne Dämpfung
Marzell, Alfred, Schwäbisch Gmünd
Mit Dämpfung
Marzell, Alfred, Schwäbisch Gmünd

Das harmonische Drehpendel

Im φ-ω-Diagramm, dem sogenannten ­Phasen­diagramm, weist eine geschlossene Kurve auf die fehlende Dämpfung hin. Bei Dämpfung kommt das Pendel schließlich zur Ruhe, eine Spirale mit kleiner werdendem Radius zeigt das an. Die Spirale endet in einem Punkt. Man nennt ihn Attraktor. Im ungedämpften Fall ist der Attraktor eine Ellipse.

Durch ein zusätzlich angebrachtes Gewichtsstück erhält das Rad zwei neue Ruhelagen bei -φ0und bei +φ0​.

Unwucht führt zu zwei Ruhelagen
Marzell, Alfred, Schwäbisch Gmünd

Lenkt man das Rad etwas aus einer dieser Ruhelagen aus, so schwingt es um diese Position, bis es zur Ruhe kommt. Die Kurve der potenziellen Energie bekommt eine W-Form.

Potenzielle Energie bei Unwucht
Marzell, Alfred, Schwäbisch Gmünd

Das Verhalten des Drehpendels kann mit dem einer Kugel verglichen werden, die in einer entsprechend der W-Form gebogenen Rinne rollt.

Nun erfolgt mit Hilfe einer Wirbelstrombremse eine variable Dämpfung der Drehschwingung. Ein Antrieb von außen kompensiert diesen Energieverlust durch Reibung. Bei starker Dämpfung schwingt das Rad mit konstanter Periode um eine der beiden Ruhelagen. Verringert man die Dämpfung, so beobachtet man, dass die Amplitude größer wird und sich ab einem bestimmten Wert der Dämpfung die Periodizität der Bewegung ändert: Die Drehschwingung wiederholt sich immer erst nach zwei­maliger Hin- und Herbewegung. Bei ­weiterer Verringerung der Dämpfung treten weitere Periodenverdopplungen auf, bis die Bewegung völlig unregelmäßig wird.

Marzell, Alfred, Schwäbisch Gmünd
Marzell, Alfred, Schwäbisch Gmünd
Marzell, Alfred, Schwäbisch Gmünd
Marzell, Alfred, Schwäbisch Gmünd

Der Weg zum Chaos beim angetriebenen Drehpendel mit Unwucht

Die Abbildungen zeigen die zugehörigen Phasendiagramme: Mit abnehmender Dämpfung weichen sie immer mehr von der Ellipsenform ab, weil die Kurve der potenziellen Energie nicht mehr symmetrisch zur Ruhelage verläuft. Die Schwingung wird an­harmonisch, das lineare Kraftgesetz gilt nicht mehr. Man spricht daher auch von einer nichtlinearen Schwingung. Die Amplitude beginnt zwischen zwei, vier, acht usw. Werten zu ­springen, aus den einfach geschlossenen ­Kurven im Phasendiagramm werden mehrfache Kurven. Schließlich ist keine Regelmäßigkeit mehr zu erkennen, die Schwingung ist chaotisch geworden. Wie beim logistischen Wachstum führt die Nichtlinearität bei der Bewegung des angetriebenen Drehpendels mit Zusatzmasse zum Chaos.

Ordnung im Chaos

Im n-xn​-Diagramm beim logistischen Wachstum und im t-φ-Diagramm des angetriebenen Drehpendels mit Zusatzmasse sind für den Fall des chaotischen Zustandes keine Regelmäßigkeiten zu erkennen. Bei letzterem zeigt das φ-ω-Diagramm keine geschlossenen Kurven mehr, völliges Durch­einander herrscht aber trotzdem nicht. In der φ-ω-Ebene bilden die Punkte, die Zustände des Systems kennzeichnen, ein Gebiet mit klar umrissener Form und es gibt Bereiche, in die das System „Drehpendel“ nie gelangt. Man spricht auch hier von einem Attraktor, in diesem Fall nennt man ihn einen seltsamen Attraktor. Attraktoren sind oft erst nach längeren ­Versuchsreihen zu erkennen.

Bei einer über drei Magneten pendelnden Stahl­kugel ist nicht vorhersehbar, bei welchem Magnet sie zur Ruhe kommt.

Magnetpendel
Marzell, Alfred, Schwäbisch Gmünd

Färbt man die Magnete, startet die Kugel und ­markiert anschließend den Startpunkt in der Farbe des Magneten, bei dem sie landet, sow eisen die so entstehenden „Einzugsbereiche“ der Magnete eine gewisse Struktur auf.

Feigenbaumdiagramm mit Fenstern
Marzell, Alfred, Schwäbisch Gmünd

Das Feigenbaumdiagramm zeigt den Weg ins Chaos. Auf der waagerechten Achse ist ein Parameter aufgetragen, z. B. der Faktor r beim logistischen Wachstum (oder eine Dämpfungskonstante beim Drehpendel). Zu jedem Wert wird dann ab einer gewissen Zahl n z. B. jeder 50-ste Wert xn​ aufgetragen. Man erkennt, dass sie zunächst alle identisch sind, dass dann 2 oder 4 Werte und schließlich bei chaotischem Verhalten in einem gewissen Intervall beliebig viele Werte auftreten. Auffällig ist, dass nach einem Bereich von r, der zu chaotischem Verhalten führt, wieder nur wenige Werte für xn​ auftreten. Man spricht vom Fenster im Chaos.

Eine nichtlineare Schwingung kann ­zusammen mit einem äußeren Antrieb zu chaotischem Verhalten führen.

Attraktoren weisen auf gewisse Regel­mäßigkeiten in einem chaotischen System hin.